Offener Leserbrief zum Artikel "Himmelsrauschen" in der SZ

Offener Leserbrief zum Artikel "Himmelsrauschen" in der SZ

Beitragvon DG1IUK » Mo 4. Jan 2016, 17:10

Hi!

In der Süddeutschen Zeitung erschien am 01.01. in der Online-Ausgabe bzw. am 02.01. in der Print-Ausgabe ein Artikel mit dem Titel "Das Rauschen des Himmels", in dem ziemlich negativ über den Amateurfunk geschrieben wurde. Wer SZ-Plus hat, kann das ganze unter http://www.sueddeutsche.de/politik/amateurfunk-das-rauschen-des-himmels-1.2802634?reduced=true online lesen.

Jetzt kam über mehrere Mailinglisten des DARC ein offener Brief, welchen Herbert Thiess (DB2HTA) zu diesem Artikel an die SZ bzw. den Artikel dieses Autors geschrieben hat:
DB2HTA hat geschrieben:Hallo Herr Vollmuth,

mein Name ist Herbert Thiess, ich bin langjähriger SZ-Abonnent und -Leser aus München, außerdem Funkamateur, Rufzeichen DB2HTA.

In vielen Jahren ist mir kein Artikel von so schwacher Qualität in "meiner" Zeitung erinnerlich. Mit jeder gelesenen Zeile Ihres Artikels verstärkte sich bei mir die Frage, was denn die Aussage dieses Textes darstellen soll? Soll hier ein älterer Herr und sein Hobby lächerlich gemacht und als vermeintlich aus der Zeit gefallen vorgeführt werden? Ihr Strickmuster erinnert mich an "Formate" im Privat-Fernsehen wie "Bauer sucht Frau".

Mit profunder Unkenntnis, triefender Überheblichkeit und sorgloser Oberflächlichkeit machen Sie sich über Ihr "Opfer" her und über die weltweite Millionen-Gemeinde des Amateurfunks gleich mit. "Wer in den Zeiten von Facebook noch morst ...". Dass ich nicht lache! Was meinen Sie wie lange Ihre überschätzten "dicken, pumpenden Blutbahnen" des Internets "mit EMail, Facebook, Whatsapp, Twitter, Instagram, Skype" standhalten, wenn ein längerer Stromausfall, Hacker-Angriffe, Geheimdienst-Schnüffelei, Zensur, Cyber-Krieg, Terror-Anschläge, Krieg, Naturkatastrophen plötzlich Ihre heile Welt bedrohen? Wollen Sie sich auch über Leute spöttisch erheben, die als Hobby-Astronomen tätig sind, die Pullover selbst stricken, ihren Ölwechsel selbst machen, Wikipedia-Artikel verfassen, Fußball-Roboter selbst bauen oder im Garten Salat anbauen?

Telegrafie ist ein kleiner Teilbereich des Amateurfunks mit langer Geschichte, aber auch heute noch gibt es Journalisten-Kollegen von Ihnen, die für Ihre Berichte aus Kriegs- und Katastrophengebieten die Hilfe von Funkamateuren und das Medium der Telegrafie nutzen, weil nur mit diesem Medium mit einfachsten Mitteln (ein Stück Draht, eine alte Autobatterie, ein kleines Funkgerät mit wenigen Watt Leistung und eine Telegrafie-Taste) die Übermittlung unzensierter Nachrichten auch bei zerstörter Infrastruktur z. B. aus einer zerbombten Stadt möglich ist.

Ihr Artikel enthält zahlreiche verdeckt herabwürdigende Formulierungen, alles an Ihrem Protagonisten wird als "alt" und "tot" geschildert, mit seiner "persönlichen Kommunikation" klappt es nicht, weil Mitmenschen sich bei ihm über sein Hobby beschweren. Er hat "faltige Finger" und es "rauscht nur" aus seinen Lautsprechern, "kalt und leer, wie aus dem Weltall". Amateurfunk kommt nicht ohne "vergilbte Wörter aus, Fernmeldeverträge, Morsealphabet, Überseeverkehr, Bakelit-Aparaturen, Oberpostdirektion". Geht's noch bei Ihnen? Sie haben einfach keine Ahnung worüber Sie schreiben!

Amateurfunk stellt ein besonders breit aufgestelltes Hobby gebildeter Menschen dar, hat viel mit Physik zu tun, lebt von technisch-wissenschaftlichen Experimenten. Der österreichische Verband z. B. heißt Österreichischer Versuchssender-Verband ÖVSV". Reizvoll sind zahlreiche Verbindungen zu Wissensgebieten wie Informatik, Biologie, Elektronik, Mechanik, Geografie, Ionosphären-Forschung und viele andere mehr. Wir Funkamateure sind viel in der Natur unterwegs z. B. auf Fieldday-Treffen, beim Bergwandern, beim Bau von Umsetzern im Gelände, auf Reisen und Expeditionen. Funkamateure arbeiten mit Ornithologen und Biologen zusammen, um die Flugrouten von Zugvögeln und Fledermäusen zu erforschen. Wir errichten und betreiben Umsetzer-Funkstationen z. B. auf der Zugspitze, dem Münchner Olympiaturm, im ewigen Eis von Gletschern. So gut wie alle Segelyachten z. B. im Atlantik haben Amateurfunkstationen an Bord, weil Ihr verehrtes Facebook etc. dort nicht funktioniert. Mit Funkamateurtechniken wie APRS können wir die Positionen von Stationen, Flugzeugen, Personen, Fahrzeugen, Schiffen per Funk digital erfassen und in Landkarten darstellen. Wir kommunizieren weltweit über eigene Amateurfunk-Satelliten. Warum wohl sind alle Raumfahrer auf der Internationalen Raumstation lizensierte Funkamateure, die von dort auch mit zahllosen Schülergruppen aus vielen Ländern im Unterricht per Amateurfunk sprechen?

Funkamateure erforschen und verwenden täglich digitale Betriebsarten zur sicheren Übermittlung von Texten, Bildern, Videos. Wir erforschen, testen, betreiben und nutzen eigene globale Radio-Netzwerke wie z. B. das Winlink-Netz, das auch bei einem teilweisen oder vollständigen Ausfall des weltweiten Internet betriebsfähig bleibt. In internationaler Zusammenarbeit bauen wir das Hamnet auf, ein schnelles digitales Radio-Netz unabhängig vom Internet.

Es gibt eine Art Übereinkunft der Staaten mit den Funkamateuren: Vom Staat erhalten Sie - nach dem Bestehen einer anspruchsvollen staatlichen Prüfung (von der Teilnahme rate ich Ihnen ab) - eine Lizenz mit einzigartigen Privilegien. Sie dürfen als einzige Bürger Sendeanlagen selbst bauen und industrielle Anlagen umbauen und auf zahlreichen Frequenzbereichen mit großen Leistungen und Freiheiten nutzen. Dafür bilden die zahlreichen Funkamateure eine gut ausgebildete, geübte und auf eigene Kosten professionell ausgestattete Gemeinschaft, die bei Not- und Katastrophenfällen die Arbeit von staatlichen Stellen und Rettungsorganisationen durch Kommunikationsleistungen unterstützt. Dies ist explizit im deutschen Amateurfunk-Gesetz so geregelt. So gibt es z. B. in Bayern einen Vertrag zur Zusammenarbeit des Deutschen Amateur Radio Clubs DARC mit dem Technischen Hilfswerk THW. Bei zahlreichen Notfällen, Großschäden und Naturkatastrophen weltweit sind oft Funkamateure die ersten, die zerstörte Kommunikations-Infrastruktur ersetzen und so Hilfseinsätze zielgerichtet unterstützen, z. B. beim Stromausfall im Münsterland, beim Donau-Hochwasser, dem Nepal-Erdbeben und vielen anderen Einsätzen. Viele Funkamateure statten Ihre Stationen und Netzwerkknoten mit autarken Stromversorgungen z. B. auf solarer und gepufferter Basis aus, um auch bei längeren Stromausfällen eine sichere Kommunikation aufrecht erhalten zu können. Schiffe in Seenot auf hoher See werden gerettet, weil sie Amateurfunk-Technik wie z. B. Pactor-Modems an Bord nutzen können, die auch unter schwierigen Bedingungen funktionieren. Not- und Katastrophenfunk stellt einen von vielen Teilbereichen des Amateurfunks dar.

Funkamateure sind eine grenzenlose internationale Gemeinschaft, die weltweit Freundschaften per Funk, auf internationalen Treffen wie der HamRadio-Messe in Friedrichshafen pflegt, zahlreiche Expeditionen in fremde Länder unternimmt. Auf privaten Reisen besuchen wir Funkfreunde in ihrer Heimat, sind dort eingeladen und heißen sie zu Besuchen bei uns zu Hause willkommen. Völkerverständigung, friedlicher und freier Austausch von Erfahrungen, Meinungen, Perspektiven ist unsere alltägliche Praxis.

Journalistische Recherche ist Ihre Sache nicht, sonst würden Sie nicht Sätze absondern wie "... es soll noch 75000 Amateurfunker in Deutschland geben ...", eine herablassende und böse suggestive Formulierung. Wieso "soll" und wieso "noch"? Die richtige Zahl ist kein Geheimnis und wäre mit ein paar Klicks in Ihrer schönen neuen "simsenden, twitternden und postenden" Welt erfahrbar bei der Bundesnetzagentur, beim Deutschen Amateur Radio Club DARC, bei Wikipedia usw.

Es hätte so vieles Interessantes, wenig Bekanntes zu recherchieren und zu berichten gegeben! Vielleicht findet sich bei der SZ jemand kompetenteres, der Ihre Aussagen richtig stellt und einen etwas breiteren Horizont darstellen kann. Wie kann jemand der sich "Journalist" nennt einen so schlecht recherchierten, respektlosen und ahnungslosen Artikel schreiben? Sie haben zu lange in Ihr Schmarrrnphone geguckt!

Eigentlich müsste man jetzt hergehen, und eine Gegendarstellung zu diesem Artikel schreiben - afaik wäre die Zeitung dann gezwungen, das an gleicher Stelle abzudrucken?

Vy 73 de Florian, DG1IUK
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